Montag, 24. Oktober 2016

Schriftsteller auf Reisen


Kann man heute noch normal reisen?
Gerade lese ich ein schönes Stück Reiseliteratur, das ich gern hier unten weiterempfehle.
Ich habe mal versucht herauszufinden, was es überhaupt an Reiseliteratur gibt, und stieß auf eine Flut von Reiseführern aus etlichen Verlagen, manche aus Internetfotos- und Informationen zusammengestümpert, sowie auf eine Menge Reiseberichte, oft mehr schlecht als recht aus Selbstverlagen der Leserschaft an den Kopf geworfen - "mit Neckermann in Indien" oder "Erna und Hans bei den Buschmännern", wobei mit den Buschmännern keine Afrikaner, sondern australische Aborigines gemeint waren., oder Ähnliches, was nur die Freunde und Verwandten des Autors oder der Autorin lesen. Große Reiseromane wie Goethes "Italienische Reise", Mark Twains "Die Arglosen im Ausland" oder Seumes "Spaziergang nach Syrakus" findet man heute nur noch selten. Das liegt vielleicht zum Teil daran, dass man sich heute überall per Internet umsehen kann (was die Leute leider nicht dazu verführt, dann auch zu Hause zu bleiben) und dass die meisten Leute heutzutage als Pauschaltouristen reisen, und zwar kaum noch auf Rundtouren (sogenannte Bildungsreisen), sondern entweder als Rucksacktouristen mit Schnorrer-Potenzial oder in All-Inclusive-"Destinationen", in Clubs oder Hotels, wo sie das Land nur noch in Form von bunten Postkarten, billigen Souvenirs und die Menschen als Hotelpersonal kennenlernen - oft ohne zu ahnen, dass ihr ach so netter Schuhputzer weniger Trinkwasser im Monat zur Verfügung hat, als der Tourist mit einer einzigen Dusche verbraucht.
Massentourismus: Egal wohin, Hauptsache weg von Zuhause
Manchmal hat man auch kaum andere Möglichkeiten. Ich wollte mal in einem großen Reisebüro eine Individualreise buchen, um Brieffreunde und Autorenkollegen zu treffen - Manila mit ein paar Tagen Zwischenaufenthalt in Saigon, dann von Manila aus mit dem Bus nah Norden, zur Sommerhauptstadt Baguio, zurück mit dem Bus, Inlandsflug nach Cebu, von dort mit dem Flugzeug zurück nach Europa. Unmöglich. Obwohl der Laden sich mit ausgebildeten Reisefachkräften brüstete, boten die nur Pakete an, und man wollte mir entweder einen Badeaufenthalt auf Bali, Tauchurlaub auf Boracay oder einen Junggesellenurlaub in Bangkok / Pattaya anbieten. Jedes "Paket" für sich - ich hätte nicht von Bali nach Manila buchen können, sondern hätte jedes Mal wieder nach Deutschland zurück und erneut losfliegen müssen.
Seitdem fahre ich immer auf gut Glück. Eine Unterkunft findet sich am Zielort immer. "Alles belegt" trifft immer nur auf die Touristenburgen zu.

Der alte Patagonien-Express
In diesem Zusammenhang ist es erfrischend, so ein Reisebuch zu lesen wie "Der alte Patagonien-Express" von Paul Theroux. Der Roman ist 1979 in den USA erschienen, 1995 in deutscher Sprache bei Hoffmann & Campe. Es gibt sowohl die Taschenbuchausgabe wie auch die gebundene noch antiquarisch zu kaufen, entweder im "Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher" (ZVAB) oder bei Booklooker, mit etwas Glück auch bei Ebay oder Amazon.
Reisen als Abenteuer
 Paul Theroux, der Autor, unternimmt eine Reise von Boston durch Nord- und Mittelamerika und dann durch Südamerika bis in den Süden Feuerlands - mit der Eisenbahn. Das ist oft mühselig und langsam, auf langen Strecken und Zwischenaufenthalten unterhält er sich mit den Menschen vor Ort oder mit Mitreisenden, und er lernt dadurch mehr kennen, als es ein Flugreisender je könnte. Seine Erlebnisse schildert er in diesem großartigen Reiseroman, sehr persönlich, mal distanziert, mal ironisch, aber nie von oben herab. Er beharrt darauf, kein Tourist zu sein, sondern sieht diese, die in Gruppen oder allein als Rucksacktouristen reisen, mit kritischer bis ironischer Distanz. Seine einzigen festen Begleiter sind Bücher, meist amerikanische Literatur, denn es gibt Zeiten, da kann er nichts anderes tun als warten, oft tagelang, und lesen. Als bekannter Autor wird er häufig zu Lesungen und Vorträgen eingeladen. Ich habe das Buch mit Vergnügen und Gewinn gelesen, und ich erinnere mich an solche Höhepunkte wie den Besuch bei einem Bestatter und Einbalsamierer in Panama, nachdem er gerade Poes "Arthur Gordon Pym" gelesen hat, oder eine Zugfahrt in den Zentralanden, wo er eindringlich die Folgen einer Höhenkrankheit schildert. Armut in Ecuador, Indios in Peru - über jedes besuchte Land erfahren wir Neues, plastisch Geschildertes. Ein Höhepunkt, wenn nicht der Höhepunkt schlechthin, ist das Zusammentreffen mit Jorge Luis Borges in Argentinien. Das ist das Wichtigste - immer wieder begegnet er Menschen, meist ungewöhnlichen Charakteren, die einem aber gerade deswegen im Gedächtnis bleiben. Die Schilderungen wecken Fernweh - und den Wunsch, mal nicht im "Reisepaket", sondern als Individuum zu reisen, so wie Theroux.

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